„Das Theater wird lebendig“
Volkslieder, Legenden, Erinnerungen, Visionen: Wie gelingt eine lebendige Weitergabe von Kultur? Ein Gespräch zwischen Regisseurin Maria Chagina und Dirigentin Katharina Dickopf über "Neuland"
Mit Emilie Mayers Singspiel Die Fischerin (1842) nach einem Text Johann Wolfgang von Goethes und Ptačk architektki (Der Vogel der Architektin) (2025) der sorbischen Autorin Róža Domašcyna verbindet Neuland zwei Werke, die auf der Bühne des Sorbischen National-Ensembles ihre Uraufführung feiern. Frau Chagina, was reizt Sie daran, die beiden Werke, die in einem großen zeitlichen Abstand zueinander entstanden sind, in einen Dialog treten zu lassen?
Maria Chagina: Ich finde es immer spannend, unterschiedliche Genres aufeinanderprallen zu lassen, weil gerade in dieser Begegnung ein neuer Sinn entstehen kann. Die Fischerin ist ein Singspiel des 19. Jahrhunderts. Als ein Werk unserer Zeit verhandelt Ptačk architektki (Der Vogel der Architektin) existenzielle Themen. Auf der Bühne verbinden sich beide Welten dadurch, dass der zweite Teil in den Ruinen des ersten spielt. In diesem Kontrast und in dieser Spannung liegt für mich das Zentrum des Abends.
Frau Dickopf, wie würden Sie die Musik beider Werke beschreiben?
Katharina Dickopf: In beiden Werken spielen Text und Musik eine gleichberechtigte Rolle. Während Die Fischerin liedhaft ist und sich die Lieder mit Dialogen im Stil eines klassischen Singspiels abwechseln, ist im zweiten Teil die Komposition Christian Mietkes eng mit dem Libretto verwoben. In beiden Werken hält die Musik spielerische und groteske Momente sowie lyrische und kraftvolle Passagen bereit.
In beiden Werken ist die Hauptfigur weiblich. In der Fischerin ist Dortchen hin- und hergerissen zwischen den starren Rollenmustern in einer von Männern dominierten Gesellschaft und ihrem Wunsch nach Autonomie. Nach einem fingierten Selbstmord scheint sie sich in die Ehe mit Niklas zu fügen. Frau Chagina, was fasziniert Sie an dieser Figur?
Maria Chagina: Auf den ersten Blick wirkt Dortchen wie eine Figur aus der Commedia dell’arte: ein schlaues, flinkes Mädchen, das ihre Familie bestrafen möchte, weil sie nicht ernst genommen wird. Doch dahinter verbirgt sich eine größere Tragik: Dortchen wird zur Geisel ihrer Rolle – der Fischerin. In unserer Interpretation schränkt diese Rolle sie nicht ein, sondern offenbart im Gegenteil ihren starken Charakter: Sie versucht nicht nur, aus dieser Rolle auszubrechen, sondern auch eine Art Regisseurin ihres eigenen Stücks zu werden. Die Frage, ob sie dieses Spiel bis zum Ende durchziehen kann, bleibt offen.
Die zweite Frau ist eine Architektin, die zunächst angesichts der zerstörten Umwelt resigniert, dann aber mit Hilfe eines Vogels, der ihr alter Ego ist, zu ihren sorbischen Wurzeln findet und Zukunftsbilder entwirft.
Maria Chagina: Die Architektin ist ebenfalls eine Gefangene ihrer Rolle. In unserer Interpretation wird sie in das Stück hineingezogen, das sie gewissermaßen in sich aufnimmt: Das Theater wird lebendig und sie wagt sich an das Projekt, das sich nach und nach zu einer persönlichen Herausforderung entwickelt.
Welche Bedeutung haben Mythen und Legenden für Ihre Lesart?
Maria Chagina: In der Fischerin ist der musikalische Stoff nahezu aus Legenden gewoben. Goethe flicht in den Text des Singspiels u. a. die Balladen vom Erlkönig und Wassermann sowie das Vogelhochzeitslied ein. Die Märchen und Sagen existieren neben den Figuren – sie gehören zum Leben der Charaktere und prägen die Erzählung. In Ptačk architektki (Der Vogel der Architektin) sind von den Legenden nur noch bruchstückhafte Erinnerungen geblieben. Die Architektin geht rational mit ihnen um, wobei sie sogar ein gewisses kommerzielles Interesse hegt. Sie versucht, die Mythen zu rekonstruieren oder für ihre Zwecke neu zu gestalten.
Goethe hat sein Singspiel Die Fischerin für die Aufführung unter freiem Himmel angelegt. Der Lichtschein der Fackeln, die aufleuchten als Dortchen wieder zu ihrem Vater und ihrem Bräutigam findet, ist der dramatische Höhepunkt des Stückes. Wie setzen Sie die Geschichte für die Bühne um?
Maria Chagina: Wir spielen das Stück in einem kammerhaften Rahmen. Gerade durch diese intime Theatersituation kann sich Dortchen von der Bühne lösen: Sie versteckt sich nicht, sondern begibt sich in den Zuschauerraum und beobachtet von dort, wie die anderen Figuren nach ihr suchen. In diesem Moment erreicht sie die Emotion, die sie erleben wollte. Und doch ist die Situation alles andere als einfach: Statt der erhofften Reaktion trifft sie der Zorn ihres Vaters, sie stößt auf unüberwindliches Unverständnis. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Konflikt noch weiter zu zuspitzen und seine Intensität auf der Bühne spürbar zu machen.
Und dann spannen Sie einen Bogen zu einer tristen Gegend um einen abgelassenen Stausee, in dem Schutt- und Schrottberge sichtbar werden – eine Lausitzer Tagebaufolge-Landschaft, die sich in eine moderne Freizeitoase verwandeln soll.
In der Musikwelt wird die Komponistin Emilie Mayer (1812–1883) gerade wiederentdeckt. Wie würden Sie die Musik der Fischerin beschreiben?
Maria Chagina: Jede Arie ist nicht einfach ein Teil einer Szene, sondern fast schon eine eigenständige theatralische Nummer. Besonders spannend ist, dass die Figuren ihre Lieder quasi ankündigen, bevor sie singen. Daraus entstand die Idee, das Stück wie ein offenes „Jahrmarkttheater“ zu inszenieren: Jede Arie verwandelt sich in einen eigenen Nummernblock, der die Handlung in eine leicht veränderte Dimension verschiebt.
Katharina Dickopf: Als ein Frühwerk ist der Einfluss Wolfgang Amadeus Mozarts und auch Carl Maria von Webers nicht zu überhören. Darüber hinaus wird bereits mit der Ouvertüre Emilie Mayers Begabung in der Erfindung dramatischer Passagen und herrlicher Melodien spürbar. Es gibt eindrucksvolle Passagen, in denen der Chor, der die Nachbarn spielt, klanglich vollumfänglich eingesetzt wird, kurze liedhafte Arien, Duette und ein Terzett. Man spürt schon ihre Eigenständigkeit in diesem Frühwerk und eine wunderbar funktionierende musikalische Dramaturgie. Dennoch merkt man, dass das Singspiel vermutlich nie aufgeführt werden konnte und die einzelnen Orchesterstimmen noch nicht bis ins letzte Detail fertig gestellt wurden. Wir ergänzen die Artikulationen und Details und gleichen die Stimmen untereinander an.
Die Musik zu Ptačk architektki (Der Vogel der Architektin) stammt vom Lausitzer Komponisten Christian Mietke. Frau Dickopf, wie lässt sich eine Groteske klanglich ausdrücken?
Katharina Dickopf: Interessant ist, wie Christian Mietke einzelne Effekte und Spieltechniken aus der Neuen Musik in die Orchesterpartitur einbaut. Beispielsweise spielen Klappengeräusche und Luftgeräusche eine Rolle und im Flügel wird mit Schlagwerkschlägeln gespielt. Auch die Tatsache, dass der Chorsatz und gesprochene Texte eng mit der kompositorischen Behandlung des Orchesters verwoben sind, lässt interessante klangliche Effekte zu.
Das Gespräch führte Pauline Lehmann.
